Abdu´l-Bahá (1844-1921), eine zentrale Figur der Baha'i-Religion, hat darauf geantwortet:
Es gibt keinen Widerspruch zwischen wahrer Religion und Wissenschaft. Wenn eine Religion im Gegensatz zur Wissenschaft steht, wird sie zu reinem Aberglaube; das Gegenteil vom Wissen ist die Unwissenheit.Wie kann ein Mensch etwas für einen Tatsache halten, das die Wissenschaft als unmöglich erwiesen hat? Glaubt er entgegen seiner Vernunft, so ist dies eher unwissender Aberglaube als Glaube. Die wahren Prinzipien aller Religionen stimmen mit den Lehren der Wissenschaft überein...
Alle Religionen lehren uns, das Gute zu tun, großmütig, aufrichtig, wahrhaftig, gesetzestreu und ehrlich zu sein. Dies alles ist vernünftig und logischerweise der einzige Weg, auf dem die Menschheit vorwärts kommen kann...
Die Religion umfaßt zwei Hauptteile: erstens den geistigen, zweitens den praktischen Teil. Der geistige Teil bleibt immer unverändert... Der praktische Teil der Religion hat es mit äußeren Formen und Gebräuchen zu tun und mit der Art, gewisse Vergehen zu bestrafen. Dies ist die materielle Seite des Gesetzes, und sie leitet die Gewohnheiten und Sitten der Menschen...
Die geistige Seite der Religion ist die größere, die bedeutsamere von beiden, und sie ändert sich niemals...
Alle gegenwärtigen Religionen sind zu abergläubischen Bräuchen herabgesunken und stimmen nicht mehr mit den wahren Grundsätzen der von ihnen vertretenen Lehre und auch nicht mit den wissenschaftlichen Entdeckung unserer Zeit überein. Viele religiöse Führer sind zu der Auffassung gekommen, daß die Bedeutung der Religion hauptsächlich darin besteht, an einer Sammlung von bestimmtem Dogmen und an der Ausübung von Riten und Zeremonien festzuhalten. Sie lehren diejenigen, deren Seelenheil sie betreuen, genau wie sie zu glauben, und diese halten sich zäh an die äußeren Formen und verwechseln sie mit der inneren Wahrheit.
Diese Formen und Riten weichen nun in den verschiedenen Kirchen und bei den verschiedenen Sekten voneinander ab und widersprechen sogar einander, wodurch die Anlaß zu Uneinigkeit, Haß und Spaltung geben. Die Folge aller dieser Zwietracht ist die Meinung vieler gebildeter Menschen, daß Religion und Wissenschaft einander widersprechende Begriffe seien, daß die Religion keiner Überlegungskraft bedürfe und in keiner Weise durch die Wissenschaft gelenkt werden sollte, sondern daß beide notwendigerweise im Gegensatz zueinander stehen müßten. Die unglückliche Folge davon ist, daß die Wissenschaft abseits von der Religion dahingeht und die Religion nichts als ein blindes und mehr oder minder gleichgültiges Befolgen der Vorschriften gewisser Religionslehrer ist, die auf Annahme ihrer eigenen Lieblingsdogmen dringen, selbst wenn sie der Wissenschaft widersprechen...
Bedenket, was den Menschen von den übrigen erschaffenen Wesen unterscheidet und ihn zu einem besonderen Geschöpf macht. Ist es nicht seine Urteilsfähigkeit, seine Intelligenz, und sollte er sich nicht in seinem religiösem Forschen ihrer bedienen? Ich sage euch: wäget alles, was euch als Religion geboten wird, sorgfältig auf der Waage der Vernunft und Wissenschaft. Wenn es die Probe besteht, so nehmt es an, denn es ist die Wahrheit. Stimmt es hingegen nicht damit überein, so weist es zurück, denn es ist dann Unwissenheit.
Blicket um euch und erkennet, wie die heutigen Welt in Aberglaube und äußeren Formen untergeht...
Heute sind die Menschen in ihrer Verehrung derartig von äußeren Formen und Zeremonien abhängig geworden, daß die so lange über einzelne kirchliche Bräuche oder besondere Übungen streiten, bis man allerseits über ermüdende Erörterungen und Unruhe klagen hört. Es gibt Menschen, die einen schwachen Intellekt besitzen, und ihre Verstandeskräfte sind nicht entwickelt; aber man darf nicht etwa die Kraft und Macht der Religion wegen der Begriffsunfähigkeit dieser Menschen in Zweifel ziehen...
Gott hat Religion und Wissenschaft gewissermaßen zum Maßstab unseres Verstehens gemacht. Seid achtsam, eine so wunderbare Kraft nicht zu vernachlässigen. Wägt alles auf dieser Waage.
Für den, der Fassungskraft besitzt, ist die Religion wie ein offenes Buch. Wie aber könnte ein Mensch ohne Vernunft und Verstandeskraft die göttlichen Wirklichkeiten verstehen?
Bringt euren ganzen Glauben in Übereinstimmung mit der Wissenschaft. Es kann keinen Gegensatz geben, weil es nur eine Wahrheit gibt.1
1 ´Abdu´l-Bahá, Ansprache in Paris S. 112-116